Freiburg – Venedig. Lost in my inner restlessness.

Es gibt kein Ziel – es gibt immer nur eine Richtung. 

Es war wieder so eine unruhige Zeit, in der ich einfach losmusste. Es war nicht nur laut in mir drin, es war auch laut um mich herum. Sorgen um die Zukunft, Beziehungszweifel- und konflikte, ein Gehetztsein von der neuen Arbeitsstelle – irgendwie musste ich endlich mal raus.

Ich hatte gerade ein paar Monate am neuen Wohnort gearbeitet, wohin ich quasi direkt im Anschluss meines Staatsexamens gezogen war und von da an erstmal erstmal durchfunktioniert hatte.

Und endlich, endlich, hatte ich Anfang des Herbst zwei Wochen frei. So lange hatte ich mich danach gesehnt, und jetzt, jetzt wusste ich erstmal gar nicht wohin mit mir. Während es also in mir immer lauter wurde, wusste ich dennoch wie ich all den Lärm wieder regulieren konnte … – indem ich meine sieben Sachen zusammenpacken, mich aufs Rad hocken und einfach fahren würde.

Fahren, fahren, fahren. Egal wohin, nur Hauptsache in und durch die Berge.

Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie kam mir als Zielort Venedig in den Sinn. Vielleicht war es die naiv-romantische Vorstellung die ich vor der Ankunft noch von dieser Stadt hatte, vielleicht aber auch die Sehnsucht nach dem Meer und das Wissen, dass ich, um dort hinzugelangen, über meine liebsten Pässe fahren „musste“.

Viel Zeit für eine Planung blieb natürlich wieder nicht, aber das habe ich ja sowieso schon aufgegeben. Wenigstens ein paar Unterkünfte gebucht, die ich an der Strecke entdeckt hatte und das richtige Kartenmaterial besorgt. Der Rest würde sich ergeben.

Um mir eine schon zu bekannte, eher flache Strecke zu sparen, nahm ich von Basel aus den Zug nach Davos, um von dort die kleine Transalp-Tour zu starten.

Ankunft in Basel.

So radelte ich also nach Basel, hockte mich dort in den Zug und versuchte mich auf die kommenden Tage zu freuen. Doch irgendwie war ich nur unruhig. Voller Zweifel. Ich wusste wirklich mal wieder nicht wohin mit mir und war froh, dass ich die nächsten Tage nur mit einem beschäftigt sein würde: radeln, essen und schlafen. Berge sehen und Berge erfahren.

In Davos angekommen war ich ziemlich schockiert von all dem Luxus dort, dieser Ort war mir zu voll, zu laut, zu unpassend für die Schönheit und Stille der Berge. Ich verzog mich schnell in meine Jugendherberge, aß mein Gemüsebaguette und studierte meine Karten.

Den Hinweis, dass mein erster geplanter Pass, der Flüelapass, aufgrund Schnee gesperrt sein könnte, verdrängte ich erstmal. Es wird schon gut gehen. Hat ja immer irgendwie geklappt.

Und so ging der Wecker am nächsten Morgen in aller Frühe. Wie immer auf solchen Touren wachte ich mit Herzklopfen,  rumorendem Magen und einer gewissen Nervösität auf. Jede Tour ist immer wieder spannend und so routiniert auch vieles mittlerweile abläuft, eine gewisse kindliche Restaufregung bleibt immer noch. Herrlich. So zwängte ich mir also das Frühstück rein und machte mich auf den Weg. Die Sonne kam gerade erst hinter den Bergspitzen hervor, es waren knappe 3°C und schon noch knackig kalt. Herbst in den Alpen eben.

 

Richtung Flüela war ich ziemlich nervös. War der Pass wirklich offen? Wenn nicht, was dann?

Ein Schild am Straßenrand, das auf eine mögliche Sperrung hinwies, ignorierte ich erstmal gewissenhaft.

Und es wurde traumhaft. Bei einer ziemlich Eiseskälte, aber klarer Luft und einem blauen Himmel kurbelte ich diesen herrlichen Pass hoch und wurde im Folgenden mit einer tollen Abfahrt belohnt, die mich runter nach Susch und weiter Richtung Westen und meinem nächsten Pass führen sollte.

 

 

Und so ging es bei strahlender Sonne rauf auf den Ofenpass, der mir wider Erwarten gut gefiel, auch wenn er steigungstechnisch nicht so mein Ding war (unterprozentig) und es ihm definitiv an Serpentinen und Kurven fehlte.

Aber irgendwas war magisch an diesem Pass, die Landschaft war so karg und erinnerte mich teilweise an Norwegen, dann wieder an Kanada – ich kam mir nicht mehr wirklich vor wie in den Schweizer Alpen.

 

 

Ein Blick auf die Uhr oben am Pass sagte mir dass ich irgendwie „zu früh“ dran war. Ich hatte mir im Ort Santa Maria im Münstertal am Passende eine Unterkunft gebucht, die ich schon vor dem Check-In um 17 Uhr erreichen würde. Nicht nur das, sondern auch die Tatsache dass die Sonne noch so schön schien und ich einfach noch nicht vom Rad runterwollte, ließ mich also die gebuchte Unterkunft stornieren und zum Weiterfahren veranlassen.

 

Stille am Umbrail.

Es ging rechts ab auf den Umbrailpass, der mich hoch aufs Stilfserjoch bringen sollte.

Diesen Pass kannte ich noch als ehemalige Schotterpiste von einer Stilfserjochabfahrt einige Jahre zuvor und jetzt freute mich jetzt über herrlichen, glatten, neuen Asphalt. Tour de France sei Dank! Langsam machte ich mir aber doch Gedanken wo ich jetzt eigentlich bleiben wollte über Nacht. Denn je höher ich kurbelte, desto kälter wurde es auch und ich hatte nicht genug Material mit um notfalls auch irgendwo zu biwakieren.

Oh Mann. Aber Hauptsache so lange wie möglich draußen gewesen sein, es war wieder typisch für mich. Ich wurde etwas nervös, überlegte, doch noch umzukehren. Denn ich war mir nicht sicher ob ich oben am Stilfserjoch eine Unterkunft ergattern könnte, das Hospiz oben am Berg könnte genauso gut geschlossen sein.

Doch ich wurde fürs Weiterkurbeln belohnt: Ein paar Kehren und Höhenmeter weiter und ich entdeckte in einer schönen S-Schleife ein typisch schweizerisches Gasthaus mitsamt einladender Sonnenterasse.

Perfekt! Hier wollte ich bleiben. Und ich konnte sogar noch ein kleines Zimmer im obersten Dachwinkel ergattern, urgemütlich, ohne Schnickschnack und ideal um zur Ruhe zu kommen.

Nach einer schnellen Dusche machte ich mich mit dem herrlichsten Nusskuchen den ich je gegessen habe raus auf die Terrasse. In die Sonne stieren, essen, entspannen.

 

Nusskuchen deluxe. 

 

Stieren und Essen funktionierte. Entspannen.. – immer noch nicht so richtig. Ich war noch immer unruhig, und so packte ich mir am späten Nachmittag noch meine Laufschuhe und lief über ein paar Feldwege die Berge hoch, immer den Sonnenstrahlen nach. Wasserfälle und Bäche begleiteten mich. Es war ruhig, so herrlich ruhig, dass ich hier gar nicht mehr weg wollte.

Kleine Lauftour am Abend.

Als es anfing zu dämmern, machte ich mich dann doch wieder  zurück. Langsam kam auch der richtige Hunger, der endlich mal gestillt werden wollte. Immerhin war das Frühstück vom Morgen auch schon etwas her und dazwischen lagen schon ein paar Kilometer und Höhenmeter.

Und so hockte ich mich in meinem Dachstübchen aufs Bett und genoß meine in Santa Maria ergatterten Vinschgauer, die ich dann noch mit Tomaten, Petersilie und ordentlichem Schweizer Bergkäse garnierte. Ein Gourmettraum! Simples Essen ist einfach immer wieder ein Geschenk!

Ohne Worte.

 

Wie immer auf solchen Touren versuchte ich mich auch hier weitgehend selbst zu versorgen. Nicht darauf angewiesen zu sein, „auswärts“ zu essen.

Dafür verzichte ich auch gerne mal auf ein warmes Essen und mache eben Brotzeit. Für alle anderen Fälle ist der kleine Kocher und ein Topf immer mit dabei, denn Radeln macht eben wirklich hungrig und da muss es manchmal einfach etwas Warmes sein.

Nochmal die Nase in die Karte stecken und die Strecke für den nächsten Tag austüfteln. Ich hatte eine Unterkunft im Grödnertal reserviert. Dafür musste ich am nächsten Tag über den Umbrail hoch aufs Stilfserjoch, das mit seinen 2757 Hm der höchste Gebirgspass der italienischen Alpen ist. Danach würde es über Meran – Bozen – Brennerpass und rechts ab hoch ins Grödnertal gehen. Eine ziemliche Distanz, aber naja. Ich wollte ja auch  einfach nur radeln.

Am nächsten Tag war es grau und bedeckt. Das gute Wetter hatte sich verzogen und am Weg hoch aufs Stilfserjoch wurde es nass und kalt. Wolkenfetzen flogen über mich hinweg, blieben an den Bergspitzen hängen und brachten immer wieder neuen Regen.

Na herrlich. Ich hatte das Stilfserjoch schon zu allen Wettervarianten erlebt. Sowohl bei knappen Minusgraden und Graupelschauer als auch bei herrlichster Sonne in Kurz-Kurz-Klamotten.

Abfahrt vom Stilfserjoch.

So wusste ich, dass die eigentlich traumhafte Abfahrt heute kein Vergnügen werden würde. Mir blieb nichts anderes über als mich so dick wie möglich einzupacken, damit ich nicht ganz als Eiszapfen unten im Tal ankommen würde.

Es wurde ein trotzdem ein Zittern und Frieren, und ich war froh, als mich unten im Tal bessere Temperaturen und vor allem auch Sonne empfingen. Auftauen!

Ich freute mich auf die Fahrt durchs endlose Vinschgauer Tal, das mir schon so gut bekannt war von zahlreichen vorherigen Radlurlauben. Eine Erinnerung nach der anderen flog mir durch den Kopf. Nebenbei war ich wieder fasziniert von all den herrlichen Äpfeln dort – eine Obstplantage war voller als die andere. Ein Traum für einen apfelsüchtigen Menschen wie mich.

In Meran angekommen konnte ich es nicht lassen und entschied mich für den bergigen Weg hoch über die Dörfer anstatt den einfachen,  flachen Weg weiter Richtung Bozen zu fahren.

Ich unterschätzte hier definitiv die Höhenmeter die mir nun bevorstanden. In der Karte war die Straße als weißes Sträßchen eingezeichnet, keine Angabe zu Steigungen oder dergleichen.

Dieser Abstecher waren all die Mühen wert! Das Traditionsgestüt in Hafling. Echte Südtiroler Urgesteine! – In Gedanken an meinen guten, alten Lucky. Ebenfalls Haflinger 😉

Das hätte mich eigentlich warnen sollen, denn sowas endet meist darin, eine Steigung nach der anderen erklimmen zu müssen. Und so zog sich der Weg unfassbar lang, es ging bergauf, bergab, immer wieder und immer weiter. Es wurde immer später und das Wetter verschlechterte sich dramatisch. Scheinbar war für den folgenden Tag auch noch Schnee gemeldet.

Wie sollte  ich es so rüber über die nächsten Pässe schaffen?

Erstmal galt es aber, wieder runter von dieser Straße kommen und es endlich nach Bozen schaffen. Ich hatte mittlerweile einen zeitlichen Verzug von guten zwei Stunden. Diesen Weg hatte ich total unterschätzt.

Kurz vor Bozen musste ich erst einmal mit einem riesigen Vinschgauer-Käse Fladen auftanken. Den Mund voll, schaute in die Karten und versuchte den schnellstmöglichen Weg durch die Stadt ausfindig zu machen. Um Richtung Grödnertal zu kommen musste ich einmal mitten durch die Stadt und Richtung Brennerpass. Diesem würde ich einige Kilometer folgen müssen um dann Richtung Osten weiter hoch in die Berge zu fahren. Es war schon spät und ich begann, nach Unterkünften Ausschau zu halten, denn ich wusste, dass ich es niemals bis zur reservierten Bleibe schaffen würde. Mit einem Telefonat gab ich dieser schon mal Bescheid und buchte die Übernachtung auf den folgenden Tag um.

So schön Bozen vielleicht sein mag – es war ein Grauen durch diese Stadt zu fahren. Verkehr, Trubel, Menschen, ich war gehetzt, müde und eine gewisse Angst wo ich über Nacht bleiben sollte spielte mir auch noch übel in die Karten.

Ich fuhr an einem Hostel nach den anderen vorbei und konnte doch nicht anhalten um zu bleiben, zu viel war mir all dieser Lärm hier, ich wollte nur raus aus der Stadt.

Als ich endlich, endlich den Weg gefunden hatte und am Brenner stand, musste ich feststellen dass der parallel verlaufende Radweg durch einen Steinschlag gesperrt war. Alternativroute? Fehlanzeige.

Ich wusste nicht ob ich lachen oder heulen sollte. Ich verdammte mein komplettes Projekt und wollte nur noch heim. Heimweh und die Sehnsucht nach einer Beständigkeit nahmen mich komplett ein. Ich wusste dass ich derzeit tagtäglich nur mit einer inneren Hetze unterwegs war, ich flüchtete. Vor mir, vor meinen Gefühlen, vor dem was ich nicht wahr haben wollte. Dieser Antrieb ließ mich Pass um Pass, Kilometer um Kilometer und Höhenmeter um Höhenmeter kurbeln. Doch hilf mir das wirklich? In diesem Moment zweifelte ich mehr denn je daran.

Mir blieb nichts anderes über, als mein Rad mitsamt Gepäck stumpf durch die Sperrung und die riesigen Steinklötze, die mir den Weg versperrten, zu tragen. Ich war zu müde um nochmals umzukehren und mir war es auch egal ob ich dafür eine Strafe bekommen könnte.

Nach gut einer halben Stunde Kraxelei hatte ich es geschafft: Der Weg war wieder frei und ich konnte endlich weiterfahren. Lärm von der Brennerautobahn, den Gleisen und Zügen in diesem engen Tal begleiteten mich. Es wurde dunkel. Und ich hatte noch immer keine Unterkunft. Sollte ich einfach weiterfahren und es doch versuchen bis hoch ins Grödnertal zu schaffen? Ein Blick in die Karte sagte mir, dass dieses Unterfangen ganz schön hart werden würde. Mal wieder hatte ich eine Strecke etwas unterschätzt.

Die Straße führte mich in ein Dörfchen direkt am Brenner gelegen und dort entdeckte ich plötzlich zu meiner Linken einen alten Gasthof. „Zimmer frei“ stand dort auf einem Schild. Daneben Bäume, herrliche, urige Bäume behangen mit bunten Lampions und im Hintergrund ein gemütlicher Biergarten.

Es sah perfekt aus. Und es war perfekt. Auf Anhieb bekam ich ein Zimmer, die Einladung in den Biergarten und für den Abend eine nette Gesellschaft bestehend aus gut gelaunten Schweizern, Italienern und Südtiroler Urgesteinen. Als ich nach einem weiteren selfmade Vinschgauer-Käse-Fladen endlich ins Bett fiel, schien die Welt zumindest für heute Abend wieder in Ordnung zu sein.

Mit dem Blick am nächsten Morgen aus dem Fenster wurde mir klar dass dies heute nicht mein Tag werden würde: Es schüttete wie aus Eimern. Und nach einem weiteren Blick in die Wetterkarten für die Berge und die Webcam im Grödnertal wurde mir dies noch viel klarer: denn es hatte Neuschnee!

Und das nicht zu knapp – Juchhe. Und ich wollte da hoch radeln!

Nach einigen Überlegungen nahm ich letzten Endes den Bus um weiter hoch zu meiner ja schon reservierten Unterkunft zu kommen. Nach einigen Höhenmetern verwandelten sich die Regentropfen in dicke Schneeflocken. Es schneite, schneite und – schneite. Alles war in einen dicken, weißen Wintermantel gekleidet. Wundervoll. Wenn ich nicht gerade das Rennrad bei mir hätte.

Als ich in Wolkenstein im Grödnertal aus dem Bus stieg, war es kalt und weiß. Ich schob mein Rad durch den Schnee, deckte mich erstmal mit Essen ein und machte mich auf die Suche nach dem Hotel. Wie es kommen musste, konnte ich auf dem Weg dorthin mein Rad erstmal einige Serpentinen rauf auf den Berg durch den Schnee schieben. Das kommt davon wenn man eine Unterkunft mit Aussicht bucht. Durchgeweicht bis auf die Knochen kam ich endlich an.

 

Ja, es war nass. Und kalt.

Hier angekommen, stellte ich fest, dass ich eine ziemliche Luxusvariante gebucht hatte. Billig zwar, dank den guten alten Lastminuteplätzen, aber Wow – ich war ziemlich beeindruckt und gleichzeitig froh, dass ich mir schon Lebensmittel fürs selber Kochen besorgt hatte, denn hier würde ich mir bestimmt kein Abendessen leisten können (oder wollen).

Es wurde ein eingeschneiter Tag, den ich mit Duschen, Karten studieren, einer neuen Unterkunft für den nächsten Tag organisieren sowie Kochen am Balkon verbrachte. Immer mit dem Bangen, wie ich es mit dieser Masse Neuschnee am nächsten Tag über den Sellapass und anschließend dem Passo Rolle schaffen sollte. Immerhin lagen diese Pässe nochmal gut 1000 Hm höher als Wolkenstein.

Kochen am Balkon.

Aussicht vom Balkon.

Selfmade Luxusessen im Luxushotel.

 

Inklusive Luxusschlappen. Praktisch wenn es einem an warmen Klamotten zum Gammeln fehlt.

Ich telefonierte mit Zuhause und stillte mein Heimweh. Wie gerne wäre ich jetzt dort, hätte die Pferde um mich und meine gewohnte Umgebung. Ich verfluchte mein Fernweh und meinen Dickkopf, ständig solche Hals-über-Kopf-Projekte anfange zu müssen.

Am nächsten Tag war natürlich noch alles weiß, die Straßen schienen aber frei zu sein. Nachdem ich mich am Luxusfrühstück ordentlich gestärkt hatte, packte ich zusammen und wollte es zumindest versuchen.

Mein Herz klopfte bis zum Hals als ich an den Anstieg zum 2218 Hm hohen Sellapass kam. Diesen kannte ich bisher nur in Sonnenschein, aber nicht in dieser kalten, abwehrhaften Form. Ich hatte mal wieder ganz schön Respekt vor der Natur, in der wir alle doch nur so klein sind.

Trotzdem kurbelte ich eifrig weiter. Was sollte schon schiefgehen? Umkehren konnte ich ja immer noch. Und ich kam tatsächlich an. Ich war stolz wie Oskar! Den Sellapass im Neuschnee bezwungen! Meine Gefühlswelt war ein einziges Auf und Ab bestehend aus Zweifel, Angst, dann wieder erfüllt von Stolz und neuem Mut. Verrückt.

Ankunft! Und Abfahrt!

Ich packte mich oben so dick ein wie möglich (ich war beim Packen zuhause eher optimistisch gewesen was einen potentiellen Wintereinbruch anging – daher waren warme Klamotten eher rar gesät) und startete in die lange, unfassbar kalte Abfahrt runter nach Predazzo.Ich sehnte den nächsten Pass, den Passo Rolle herbei. Nicht mehr abfahren und bitterlich frieren, endlich wieder kurbeln, warm werden, Energie für den Körper erzeugen.

Es dauerte gefühlt ewig, aber endlich konnte ich wieder bergauf radeln.

Es war trocken und kalt und am Passo Rolle lag deutlich weniger Schnee als am Sella, man merkte schon den Einfluss des südlicheren Gefildes. Trotzdem wurde mir klar, dass es besser gewesen war, den eigentlich geplanten Schwenker in die Dolomiten auszulassen – hier wäre es mit dem Rennrad wahrscheinlich unmöglich gewesen.

 

Die Abfahrt vom Rolle brachte mich von 1970 Metern runter nach Lamon auf 594 Metern gelegen. 40 endlos kalte Kilometer Abfahrt. Selten war ich so froh, eine Abfahrt endlich hinter mir gelassen zu haben.

In Lamon musste ich wiederum erstmal nach meiner Unterkunft suchen. 10 Kilometer und weitere 600 Höhemeter den Berg hinauf fand ich diese auch: Ein altes Berghaus inmitten der herrlichsten Berglandschaft. Das Haus war riesig und ich war gefühlt die einzige Besucherin. Die Hausherrin umsorgte mich mit allem was ich brauchte, stellte mir ihren Laptop mitsamt WLAN für den nächsten Wettercheck, die Routenplanung und dem erneuten Suchen nach einer Unterkunft zur Verfügung. Denn ich wollte ja schon am nächsten Tag in Venedig ankommen.

Ruhe. Und Wetterumschwung!

Ich weiß nicht, wieso ich unbedingt schon ankommen wollte. Im Nachhinein war mir klar, dass ich jeden Tag mit einer inneren Unruhe und Hetze gefahren war. Spätestens bei der Ankunft in Venedig realisierte ich, dass ich irgendwie an „mir vorbei“ geradelt war, an mir vorbei gelebt hatte. Hier oben in Lamon, in dieser Einsamkeit, schien ich aber das erste Mal ein bisschen inneren Frieden zu finden.

Der nächste Tag begrüßte mich mit Sonne. Die dichte Wolkendecke verzog sich und ich machte mich – energietechnisch eher ungestärkt, denn das italienische Frühstück, das ja mehr aus Nichts als aus etwas Handfestem besteht, war nicht wirklich das was ich für einen Radltag wirklich brauchte.

Ich machte mich auf den Weg und fuhr Richtung Monte Grappa. Dieser Gebirgszug ist der Letzte der Dolomiten bevor die venezianische Ebene beginnt und ist durch seine Bedeutung im ersten Weltkrieg geschichtsträchtig geprägt. Dieses prägende Gefühl lässt einen am ganzen Berg auch nicht los und noch heute kann es ich haargenau nachfühlen.

 

Die Sonne strahlte und ich konnte endlich wieder in Kurz/Kurz fahren. Ein Traum! Bei unfassbaren 30°C schwitzte ich mich den Monte Grappa hoch. Eine mehr als 30 km lange Auffahrt, die einem mit einigen steilen Stücken immer wieder schön die Energie aus den Beinen ziehen möchte. Ich begann mich langsam schon auf Venedig und das Meer zu freuen.

Am Monte Grappa angekommen gönnte ich mir eine ordentliche Pause und, – einen herrlichen Vinschgauer Fladen. Irgendwo in der Tiefe meines Gepäcks entdeckte ich noch einen Bund zerdrückte frische Petersilie, die zusammen mit dem halb geschmolzenen Bergkäse das absolute Gourmethighlight des Tages bildete. Dieses zweite – und im Prinzip erste richtige Frühstück – war aber auch mehr als überfällig.

Ich schoß noch einen Haufen Bilder und machte mich dann auf in die warme, herrliche und schnelle Abfahrt, denn die Südauffahrt des Monte Grappa hat auch so seine steilen Kanten zu bieten. Die ich jetzt natürlich endlich richtig genießen konnte.

Vergessen war das Leiden noch einen Tag zuvor auf der Abfahrt des Passo Rolle. 30°C Temperaturunterschied zeigen dann doch etwas Wirkung!

Unten angekommen begann aber die nächste Quälerei: 100km Ebene! Lang, langweilig, mit Gegenwind und viel Verkehr.

Spätestens hier verfluchte ich meine innere Hetze – wieso war ich nicht einfach noch einen Tag länger in Lamon geblieben? Wieso musste ich immer weiter, weiter, konnte den Moment nicht einfach genießen? Ich schüttelte über mich selbst den Kopf.

Die Ankunft in Venedig, die ich mir so schön ausgemalt hatte, war eher ernüchternd. Ein Hostel voll mit jugendlichen Backpackern, trinkend, rauchend, am Laptop hockend und eine Vorstadt voll mit Lärm, Verkehr und viel zu vielen Menschen.

Wie herrlich war es doch in den Bergen gewesen.

Und die Sehnsucht nach dem Meer – ungestillt. Es gab keine Möglichkeit dort ranzukommen, wenn man einmal in diesen Vororten gefangen war. Was auf der Karte so leicht aussah, war in der Realität ganz anders. Ich nahm mir vor, mir nie wieder eine Stadt als Ankunftsziel meiner Transalptouren auszusuchen.

Nachdem ich begleitet von ziemlichen Stress und Hektik noch meinen Zug für die Rückfahrt nach Basel gebucht hatte , waren es mittlerweile acht Uhr abends und ich musste schleunigst mal wieder was essen. Ich machte mich auf die Suche nach einer Pizzeria, denn immerhin hatte ich mir auch das ja so schön vorgestellt: Venedig, italienische Pizza, Meer, Ankommen und Sonne. Doch weder befand ich mich gerade richtig in Venedig, noch war ich in einer gemütlichen, urigen italienischen Pizzeria, noch hatte ich bisher das Meer gesehen und angekommen – angekommen war ich irgendwie auch nicht, denn immer noch wollte ich weiter und ganz plötzlich vor allem dringend nach Hause.

 

Überfahrt nach Venedig.

Das Meer! Endlich!

 

Ein bisschen Gönnen.

Am nächsten Morgen machte ich mich noch vor Sonnenaufgang auf nach Venedig, wofür ich einen Bus nehmen und das Rad im Hostel lassen musste. Ich schaute mir für zwei Stunden die Stadt an, fand ein bisschen das Meer und konnte rechtzeitig flüchten bevor die Touristenmassen ankamen. Es wurde Zeit zusammen zu packen und meinen Zug zu erwischen, der mich am späten Nachmittag  über Mailand, dort mit einem Aufenthalt über Nacht, zurück nach Basel bringen sollte.

 

Abfahrt. Way back Home. 

Von Basel radelte ich zurück nach Freiburg, packte dort meine Sachen und fuhr weiter – Richtung Heimat. Denn ich wollte endlich eins: ankommen.

Epilog.

Meine innere Unruhe… Diese Tour war geprägt von einem inneren unruhigen, gehetzten Zustand. Selten habe ich minütlich so stark an meinen eigenen Tun gezweifelt und selten haben es mir meine Umstände und die Natur so schwer gemacht, das Ganze trotz allem durchzuziehen. Ich hätte genügend vernünftige Gründe dafür gehabt, die Tour einfach abzubrechen und den Zweifeln nachzugeben, denn teilweise waren die Umstände schon etwas riskant.

Auf meinem Rückweg mit dem Zug und während des Aufenthalts am Mailänder Hauptbahnhof über Nacht traf ich einen Südtiroler, der gerade am Rückweg von den Philipinen war, die für ihn eine Art inneres Ankommen darstellen. Wir passten gegenseitig auf unser Gepäck auf, tauschten Essen und kamen ins Gespräch.  Er drückte mir ein paar Bücher in die Hand, die vom Ankommen, vom Leben im Moment und vom Glauben an sich selbst handelten.

Es war ein unheimliches Zeichen. Träumte ich? Wie konnte dieser Mensch, den ich hier so zufällig traf, von meinen Urängsten, Zweifeln und Gedanken der letzten Tage wissen?

Es waren eine dieser unzähligen Begegnungen und Erfahrungen im Leben, die man meist nur dann erfährt, wenn es gerade eben nicht perfekt läuft, wenn man mit sich selbst hadert und nicht recht weiter weiß.

Es gab auf dieser Tour so viele dieser Momente, die mir trotz aller Zweifel immer wieder den Sinn meines Handelns bestätigt haben.

Und auch wenn eigentlich nichts war wie in meiner Vorstellung – es war dennoch genau richtig so und jede Minute, in der ich dort wachsen konnte, hatte ihren Sinn. Und ich bin immer noch unendlich dankbar für jede einzelne Sekunde, so hart sie auch gewesen sein mag.

Vom Mut zur Selbstbesinnung.
Hallo 2018! Von Herzensrichtungen & Lebensgrätschen.

6 Kommentare bei „Freiburg – Venedig. Lost in my inner restlessness.“

  1. Krasse Tour, ich weiß nicht, ob ich bei dem Schnee wirklich aufs Rad gestiegen wäre. Hut ab!

    1. Dankeschön! Jaa, es war wie immer ein Augen zu & durch, dem Dickkopf sei`s gedankt. 😉

  2. Erstmal vielen lieben Dank für Deinen tollen Erlebnisbericht. Allein schon vom Lesen bekomme ich eine Gänsehaut! Außerdem erinnert er mich an einen Spruch der so ähnlich lautet wie „gute Mädchen kommen in den Himmel, die richtig guten kommen überall hin“. 🙂
    Im Nachhinein bin ich jedenfalls heilfroh, dass Du das Abenteuer glimpflich überstanden hast. Trotz meiner Erfahrung mit Alpenquerungen hätte ich selbst bei Glätte – aufgrund mehrfacher harter Landungen – vermutlich das Handtuch geworfen. Sella bei Schnee – mich schaudert’s! Ich bin schon jetzt gespannt darauf, was ich bis zum Ventoux-Brevet in 2 Monaten noch alles von Dir zu lesen bzw. hören kriege. 😉
    Chapeau und (tier-)liebe Grüße!

    1. Lieber Rainer – vielen lieben Dank für dein Kommentar! Und den tollen Spruch – ich fasse den jetzt mal als Kompliment auf 😉 – Danke dir sehr dafür! 🙂 Ja, ich bin da auch froh drum, jedoch habe ich es auch damals schon getreu nach dem Motto „Schritt für Schritt“ oder „Kurbel für Kurbelumdrehung“ genommen, Schritt nach Schritt und Schauen, was kommt. Solange das Bauchgefühl noch gut ist, geht es. Ist es das nicht mehr – höre ich darauf. Im besten Fall 😉
      Ja, bis zum Mont Ventoux Brevet ist es nicht mehr lange, jedoch wird es bis dahin nicht „leer“ bleiben – und ich freue mich, ihn in diesem Jahr endlich mal mitfahren zu können und bin mehr als gespannt darauf!
      Viele liebe Grüße zurück & Danke!
      Leona

  3. […] ich an die zahlreichen Touren, die ich hier schon gefahren hatte. An all die Gemütszustände, die mich hier verfolgt hatten. Von purer Freude bis hin zu purer Verzweiflung. Ich dachte daran, wie oft ich mich hier auch schon […]

  4. […] konnte. Wie ich auch nach mehreren Pässen am Stück nicht und niemals das Gefühl hatte, endlich ankommen zu dürfen. Wie ich Angst vor der freien Zeit hatte, wie ich mir selbst Erholung nicht gönnen […]

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