Vom Kopf in den Körper: Körper einer Reise.

 

…wie sollte ein Körper aussehen, der stark ist, der Leistung bringt, der liebenswert ist, der uns trägt? Wie sollte ein Körper aussehen, der mich auf 7600km einmal quer durch Europa getragen hat und das im Vergleich, innert kürzester Zeit?

Ist es ein Körper, der einem Ideal entsprechen sollte? Ist es ein Körper, der dem Leistungsbild entspricht, einem Bild, das geprägt von falschen Idealen, Idealen meiner alten Anorexie entspricht – oder ist es ein Körper, der – no matter what – eben ausschaut, wie er gesund, fit und stark auszuschauen hat?

Es ist der 04.Juli 2023. Ankunft an der Grenze Jakobselv, Ankunft nach zwei Monaten Abenteuer, einmal quer durch Europa, auf dem Rad, aus eigener Kraft.

Es ist eine Ankunft und zeitgleich weiß ich: die wahre Reise, die geht erst jetzt so richtig los. Denn mit meiner Ankunft findet alles zusammen, meine Erfahrungen, meine Learnings, meine dunklen Momente – als auch die schönen Momente. Es findet alles zusammen und bahnt sich einen Weg in mir, um hervorzubrechen und sich auszubreiten. Nicht sofort, doch mit der Zeit, danach, immer noch ein Stück weit mehr.

Landeanflug auf Deutschland. Ich bin nervös. Ich fühle mich unwohl. Unwohl, weil ich nicht mehr in meinem safe space der Reise bin. Ich realisiere, dass ich mich etwas stellen muss: der Veränderung meines Körpers, nach 2 Monaten Reise auf dem Rad. Und diese Veränderung, sie ist nicht das, wofür ich doch all meine Strukturen & Muster so mutig losgelassen habe. Sie ist nicht das, was ich erwartet habe. Sie entspricht weder meinem Bild von mir noch dem Ideal von dem, was ich als stark & fit zu definieren glaube.

 

Diese Veränderung wird mich beschäftigen, herausfordern, prägen.

Sie wird mich dazu bringen, zu weinen, mich zu verachten, mich am liebsten vor meinen Mitmenschen verstecken zu wollen, die derweil in mir jedoch das wahre sehen: eine starke, mutige, junge Frau, die sich ihren Traum von Freiheit im Leben wirklich auch erfüllt hat. Diese Mitmenschen, sie werden mir sagen, dass ich strahle, dass ich Ruhe ausstrahle, Stärke, dass ich sie inspiriere. Diese Mitmenschen, sie werden mich nicht messen, an dem, wie mein Körper sich verändert hat.

Doch ich, ich werde es tun. Ich werde mich vergleichen. Werde verzweifeln, weil mir plötzlich die Hosen, die mir noch vor Beginn der Reise so locker um die Hüfte saßen, zwicken, ich teils nicht mehr in sie hinein passe. Ich werde mich verachten, weil ich mein Spiegelbild nicht mehr ertragen kann. Und es plötzlich so anders aussieht, wie ich mich doch eigentlich fühle.

Während ich zurück kehre, in mein neues altes Leben, werde ich lernen müssen, mich selbst zu akzeptieren, ohne wenn & aber. Denn einen Weg zurück, in die alte Essstörung, den gibt es für mich nicht.

Doch während ich versuche, das beste draus zu machen, mir neue Klamotten kaufe, statt mich in alte reinzuzwängen, kostet all das – mich alle Energie, die ich noch habe. Es ist der Teil der Reise, der jetzt erst startet und dessen Weg ich erst jetzt – so richtig schätzen lerne.

 

Wir rennen Bildern hinterher, die so sehr falsch für uns sind. Und diese werden verstärkt, durch Demütigungen und Bewertungen von Menschen. Bewertungen von Körpern, egal in welcher Form, Art & Weise sie sich auch befinden mögen – wann gewöhnen wir es uns endlich ab?

 

„You became so big!“ werde ich begrüßt – der Satz trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ist es nicht das, was ich gelernt habe, damals in der Schule? Dass einen Menschen „big“ zu nennen, nicht heißt, dass er so groß geworden ist, sondern vielmehr, dass er dick geworden ist? Es trifft mich wie ein Schlag und der Schlag vergrößert sich in dem Moment, als mir bei einem Arzttermin mein Gewicht mitgeteilt wird, der großen Bitte, mir die Zahl nicht zu nennen, zum Trotz.

Ich bin beim Kardiologen, Belastungs-EKG, mein Herz durchchecken lassen. Die Helferin fragt mich nach meinem Gewicht. „80 kg“ schätze ich – „ich wiege mich eigentlich nicht“. Ich wiege mich nicht, denn es ist ein Trigger – die jederzeit tickende Zeitbombe, zurück in die Krallen meiner Anorexie und den Abgrund zu fallen. Daher schätze ich nur und addiere ein paar Kilogramm zu meinem mir letzt bekannten Gewicht hinzu.

Die Helferin sieht mich abschätzig und zweifelnd an, bittet mich auf die Waage. Ich trete nicht stark genug für mich, stelle mich auf die Waage und bitte sie vorab, mir mein Gewicht nicht mitzuteilen.

„88 kg – wenn ich es runterrechne wegen Ihren Schuhen“ sagt sie prompt und bittet mich, aufs Ergometer für das Belastungs-EKG zu steigen, in Jeans.

Ich schlucke tief und muss mit mir ringen. Mir wird ganz anders. Hass steigt in mir auf. Kurz bevor ich überhaupt 200 Watt treten kann in der Belastung und schon ins Schwitzen gerate, mich dafür hasse und verachte, bricht sie die Behandlung ab. „Ich glaube, es reicht Ihnen“ sagt sie.

 

88 kg. Diese Zahl ist ein Pulverfass. Mit 81 kg startete damals, vor ca. 20 Jahren, meine Reise in den Abgrund der Magersucht. Schockiert stand ich damals auf der Waage im Badezimmer der Eltern meines damaligen Freundes und in diesem damaligen Moment brach eine Welt für mich zusammen. Niemals wieder wollte ich diese Zahl an Gewicht erreichen und Jahrelang, tat ich alles dafür und hungerte mich fast zugrunde.
Und nun, saß ich auf diesem Pulverfass der neuen Zahl. Ich wusste sie, ohne sie jemals wissen zu wollen. Mein Kopf ratterte. Die Tränen implodierten unter meinen Augenlidern, und ich kämpfte darum, vor der Arzthelferin, die mir gerade dieses Pulverfass gezündet hatte, nicht zu zerbrechen.

 

Es ist niederträchtig. Ich fühle mich nicht, als hätte ich einmal alleine auf dem Rad Europa durchquert. Ich fühle mich fett, unwohl, abgrundtief zu verachten und ich schäme mich. Der Schweiß rinnt mir den Rücken runter, denn mein Körper kann Thermoregulation – sehr gut. Effektiv. Mein Körper kann es, weil er ein Wunderwerk ist. Ich weiß es zu diesem Zeitpunkt nicht. Habe es kurz vergessen, weil der Hass der Anorexie, die Demütigung, durch meinen Körper bewertet worden zu sein, überwiegt hat.

Alte Wunden heilen

Dieser Moment holt alles alte hoch. Doch ich realisiere auch: das, wovor ich seit Jahren Angst hatte, nämlich so viel zu wiegen, war eingetreten. Es war einfach passiert, während ich meinen größten Traum gelebt hatte. Ich hatte es in all den schönen Momenten, die ich erlebt habe, nicht mal mitbekommen. Ich habe es mir nicht mal angesehen, wenn ich mich selbst betrachtet habe. Meine größte Angst war eingetreten und ich realisierte: ich lebe noch. Und mir geht es dennoch gut. Es passiert mir nichts.

Es ist nicht schön, es ist auch unbequem. Jedoch – hatte ich jetzt wirklich etwas zu verlieren? Es war ein Moment, den ich brauchte, um vollends mit mir, meiner Essenz, dem, was ich bin, ins Reine zu kommen.

 

Und ich gab alles dafür, um dieses innere Wachstum zu schützen & zu stärken. Mein Körper ist ein Wunderwerk. Ich bin mit ihm dadurch gegangen. Ich habe ihn nicht gemocht zu dieser Zeit, doch habe ich ihm weiterhin vertraut. All das gegeben, was er brauchte. Ruhe, Bewegung, Ausgleich und vor allem: Nahrung.

Ich gehe nicht mehr zurück, in die Essstörung, auch wenn alte Anteile vielleicht immer noch in mir rühren. Es ist okay, dass dies so ist, denn ich weiß um sie & arbeite daran.


Ich begann, meinen Körper aus einer neuen Perspektive zu betrachten – was wäre, wenn das Erscheinungsbild, das ich nun hatte, dass Abbild meines starken Körpers wäre? Was wäre, wenn eben nicht dünn = stark bedeutete und es eben ganz anders war, als ich mir doch Jahrelang in den Kopf getrichtert hatte?

 

Was wäre, wenn ich es hier endlich anders machen würde & der Veränderung positiv entgegen treten würde, statt sie zu beurteilen & sie aus dem Weg schaffen zu wollen?
Ich begann zu akzeptieren, durchzuatmen.

 

Und ich begann auch zu lernen. Denn was war passiert, dass mein Körper so sehr an Gewicht zugelegt hatte, obwohl ich doch tausende von Kalorien täglich während meiner Tour durch Europa verbrannt haben musste und diese doch nie wirklich essenstechnisch auffüllen konnte? Warum hatte ich nicht, wie es mein logischer Menschenverstand denken wollte, an Gewicht verloren? Warum fühlte ich mich, als hätte ich keine Leistung vollbracht, als wäre etwas falsch an und mit mir?

Um dies zu reflektieren und zu verstehen, habe ich Wochen & Monate gebraucht und um es Dir zu veranschaulichen, habe ich Dir einen Auszug aus einem meiner Beiträge mitgebracht, die den nördlichen Teil meiner Reise beschreiben:

 

Ob ich vorher mal daran geglaubt habe, weinend auf einer Straße im Niemandsland Schwedens zu stehen, um Pferdebremsen anzuschreien und zu flehen, dass sie aufhören mögen, mich zu stechen? Ich denke nicht. Und hätte es mir jemand aus eigener Erfahrung heraus erzählt, vielleicht hätte ich es ebenso nicht geglaubt.

Nur „kurz“ vor Rossön entschließe ich mich in der größeren Stadt Stromsünd dazu, weiterzufahren, obwohl es mir absolut nicht gut geht. Ich bereue meine Entscheidung nur wenige Kilometer danach, denn mir geht es immer schlechter. Meine Stiche brennen, sind mittlerweile zu großen Blasen mutiert und mein Kreislauf fühlt sich nicht gut an. Fiebrig fühlt es sich an und ich bin platt. Der Schotter brennt nur noch mehr unter mir und mir ist elendig heiß. Auf den letzten 20 km wird der Schotter zudem so tief, dass ich selbst in der Abfahrt darin stecken bleibe. Mühsam schiebe ich das Rad neben mir her, stolpere über weißen, heißen Schotter und fluche. Und weine. Ich weine so viel, dass ich froh bin, einfach nur allein zu sein. Niemand hört mich. Niemand sieht mich. Und helfen könnte mir ohnehin auch niemand mehr.

Es sind die wahrscheinlich dunkelsten Momente während meines European Divide Trail Abenteuers.

 

Die Folgen des Dauerstress für meinen Körper*

Mein Körper war unter Stress: Dauerstress. Durch die Belastung der Tour, dann eine zusätzliche seelische Belastung, die mich seit Deutschland begleitete, dann eine Mangelernährung, denn ich war nicht imstande, alles so aufzufüllen, wie es sein sollte – ich wurde restriktiv, ohne es zu merken, denn ich dachte, ich aß genug, tat es jedoch nicht. Dann war mein Körper im Dauerstress, als meine Allergie hinzukam. Stress sorgt dafür, dass der Cortisolspiegel steigt – und was tut ein Körper? Er schützt sich – und legt insbesondere in Krisenzeiten Polster an, fährt den Stoffwechsel herunter. Es entstehen Entzündungen im ganzen Körper – diese peitschten meine Allergie gegen die Mosquitos nur noch mehr an. Zu aller Krönung setzte das systemische Kortison, das ich dann gegen die Allergie nehmen musste, um die letzten Tage zu überstehen, in Kombination mit einem „Endspurtritt“ und den langen Distanzen von bis zu 400km am Stück dem ganzen die Krone auf: ich schwemmte auf wie ein Schwamm. Und es brauchte Wochen, Monate, bis mein Körper all das wieder verarbeitet hatte. Heute, hier & jetzt, weiß ich um all das. Damals, ahnte ich es und dennoch: schämte ich mich, fühlte mich falsch, meiner Leistung nicht würdig. Ich hätte mir gewünscht, dass niemand mich sehen würde, so wie ich war.

Ein neues (Ur-)Vertrauen in meinen Körper

Erst vor einigen Tagen habe ich es geschafft, mir die Fotos** eines Live-Interviews anzuschauen, die auf der Eurobike Messe, knapp 1,5 Wochen nach meiner Rückkehr aus Norwegen entstanden sind. Ich war hier vom Gravel Collective eingeladen, um dort auf der Bühne von der Reise zu berichten. Eine Sache, die mich so sehr freute und doch so viel Herausforderung bedeutete. Denn ich musste mich hier zeigen – und ich hätte mich doch am liebsten einfach nur versteckt. Doch ich wollte berichten, vom Abenteuer – wollte auch ehrlich und authentisch sein und ja, mein Körper, wie er jetzt war, war eben auch – ein Teil meiner Reise. 

Vor einigen Tagen habe ich diese Fotos zum allerersten Mal angeschaut & ich konnte: Frieden mit mir schließen. Frieden, weil ich mich sah, wie ich eben war: strahlend, Kraft ausstrahlend, zwar auch müde, ja auch aufgeschwemmt, mit viel mehr Masse, als ich es von mir bisher kannte, aber es war okay. Es gehörte zu meiner Reise, dass ich dort so aussah – und heute ist es gut, so wie es ist. Ich habe daraus gelernt. Viel gelernt. Und setze jetzt all das Erlernte auch endlich um.

Dazu gehört allen voran:

 

Meinem Körper immer mehr zu vertrauen. Ihm das zu geben, was er braucht. Ihn mit allem zu versorgen, was er braucht. Auch unter Belastung. Meine nächsten (Radl-)Projekte nachhaltig anzugehen. Stop zu machen, wenn ich weiß, dass es Zeit ist. Pausen zu machen, bevor es keine mehr gibt. Auf meinen Körper zu hören, auch wenn ich gerade nicht hören mag, was er mir zu sagen hat.

 

Ab jetzt kann es nur wieder besser werden. Und ich habe Frieden geschlossen. Mit der Situation, die war, mit der Demütigung, die kam und mit dem Körper, von dem ich nun weiß, dass er sich eben auch mal verändert, um mit mir durch alles hindurchzugehen und der mir erlaubt, so wirklich, wirklich frei zu sein.

 

* an dieser Stelle haben mir folgende Inhalte enorm weitergeholfen:
Ramona Richter & ihr wunderbarer Podcast, speziell diese Episode mit Triathletin Tanja Stroschneider.
Jürg Hösli vom erpse Institut mit seinen wertvollen Inhalten auf Instagram, die mir so viel erklärt haben.

 

** Ein Danke von Herzen für diese Fotos gehen hier an die unglaublich talentierte Pia-Sophie Nowak (@piarazzi) – Du hast die wahren, ehrlichen Momente von Strahlen & Dankbarkeit an meine Tour einfach nur so grandios erfasst, und das gezeigt, was mich in dem Moment wirklich erfüllt hat, wenn ich die Selbstzweifel & innere Kritik vergessen habe. Ich danke Dir von Herzen dafür.

Und auch an Dich, Bernd (@jacominasenkel), für das einfach nur schöne & vertrauensvolle Gespräch sowie die Zeit auf der Eurobike Bühne am Mainkai – auch das hat mich vergessen lassen, was mich da beschäftigt hat und zurück geholt in das, was wirklich zählt: das Abenteuer Leben und das Glück darin. 
An dieser Stelle natürlich auch ans Gravel Collective für die Möglichkeit, im Rahmen eures Standes am Mainkai das Interview mit Bernd geführt zu haben – es war ein superschöner Tag bei euch! Wer hier noch in den Podcast hören mag, den wir zusammen über mein Abenteuer am European Divide Trail aufgenommen haben, ist hier genau richtig aufgehoben. 🙂

Across Europe: Unterwegs auf dem European Divide Trail (III)
Schwarzwald Bikepacking GetTogether - gemeinsam einfach draußen sein!

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